Deutsch-LKs beeindruckt von „Woyzeck“-Inszenierung

Rezension der Schülerinnen überarbeitet von Daniel Davis

Am 3. April besuchten die Deutsch-Leistungskurse von Frau Kuhl und Herrn Davis eine moderne Inszenierung von Georg Büchners Drama „Woyzeck” im Staatstheater Wiesbaden. Die Aufführung unter der Regie von Stefan Pucher präsentierte eine zeitgenössische Deutung des 1836 unabgeschlossenen Dramenfragments, in dem er sich intensiv mit Themen wie sozialer Ungerechtigkeit, toxischer Männlichkeit und selbstermächtigender Weiblichkeit auseinandersetzt. 

Wahnsinniger Syrer (Anni)

Woyzeck wird von Abdul Aziz Al Khayat, einem talentierten Syrer, der erst seit 2018 in Deutschland lebt, gespielt, und der sowohl Wahnsinn als auch Machtlosigkeit überragend spielt. Von vornherein wird der Zusammenhang zwischen dem Erbsenexperiment und Woyzecks Wahnsinn dargestellt, der angewidert, den zittrigen Löffel zum verzogenen Gesicht führt. Diese Bilder erscheinen auf riesigen Bildschirmen und erinnern an Clips bei TikTok. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich dabei um Live-Aufnahmen handelt, die unmittelbar projiziert werden. Stichwort: Videokunst.

Woyzecks Halluzinationen, das Stimmenhören oder die Einbildung von Schwämmen werden werktreu gespielt. Sein Verfolgungswahn, etwa die Angst vor den Freimaurern, reiht sich an Al Khayats Herumgerenne in den schwarz-roten Nike TNs und seinem Baggy-Camo-Outfit. Durch verschiedene Techniken wie die Nahaufnahmen von Woyzecks Erbsenverzehr oder der authentischen Handkameraführung wird der Dauerstress fühlbar. Der Zuschauer fühlt sich durch diese überraschenden zusätzlichen Live-Videos, die neben dem hektischen Spiel auf der Bühne aufflackern so, als sei er selbst wahnsinnig. Das liegt auch an überdimensionalen KI-Animationen und gefühlt zig Bildschirmen auf der Bühne. Am Ende des Stücks werden die Träume und Probleme von Geflüchteten überfordernd auf die Bühne gebracht, sodass Erinnerungen an den Wahnsinnsmord in Aschaffenburg aufkommen, die ähnlich wie der historische Fall zu Woyzeck und das Clarus-Gutachten eine Diskussion über die Zurechnungsfähigkeit und psychologische Betreuung von (hier: ausländischen) Tätern entfacht hat. Wie ist das Wetter? Schlimm Herr Hauptmann! Wind. Wie sind Ausländer? Kriminell Herr Gauland! Verschwind‘!

Hoffnungslose Lage (Marie)

Puchers Hauptmann trägt einen Louis Vuitton Anzug mit Miniatur-Militär-Insignien, um seinen Reichtum und seine hohe soziale Stellung zu demonstrieren. Die berühmte Rasurszene, die wir selbst im Unterricht gespielt haben, aus der meisterlich hervorgeht, dass Geld die Welt regiert und Moral nichts bringt, bekommt einen fahlen Beigeschmack, wenn man die Geflüchteten-Lesart konsolidiert. Woyzecks materialistische Weltanschauung, in der einem manchmal so die Natur kommt, wird hier der idealistischen des Hauptmanns gegenübergestellt. A pro pos Ideale.  

Menschenrechte (Lorena)

Der Soldat Franz Woyzeck wird von Vorgesetzten verspottet, für medizinische Experimente zum Versuchstier degradiert. Seine Armut macht ihn wehrlos, seine Umgebung behandelt ihn wie ein Objekt. Diese Entmenschlichung verletzt all das, was Menschenrechte schützen sollen. Indem Pucher Büchners revolutionäre Flugschrift „Der hessische Landbote“ überraschend mit auf die Bühne holt und die Botschaften von verunstalteten glatzköpfigen gnomartigen Wutbürgern in einem shitstormartig leierndem Sprechgesang vortragen lässt, betont er Büchners Kampfansage „Krieg den Palästen, Friede den Hütten“. „Die rappenden Krüppel wurden auf der Bühne gefilmt und das Video direkt auf einer großen Leinwand eingespielt, während Marie mit dem Tambourmajor die Tanzszene im Wirtshaus twerkte, was das Rapvideo immer wieder durchbrach, als wäre man auf einem berauschenden gesellschaftskritischem Konzert“, so Herr Davis.  

Maries Bedürfnisse (Binia)

Marie, gespielt von Tabea Buser, rückt als eigenständige Figur in den Mittelpunkt: besonders durch ihr Battle-Rap am Ende. Neben physiologischen Bedürfnissen nach Essen und Trinken äußert Marie den Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung unter anderem für die care Arbeit, die der vergeistigte Woyzeck nicht leiste. Sie strebt nach Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit und möchte nicht auf gesellschaftliche Rollenbilder wie die Hure, die fremdgeht und sozial aufsteigen will, reduziert werden. Ihre Wiederholung „Ich putsche. Ich putsche”, mit der Puchers Inszenierung endet, zeigen klar ihren Widerstand all diese stereotypisierten Lesarten der Figur Marie.  Die Inszenierung erhebt einen allgemeinen Anspruch und zeigt, dass Maries Bedürfnisse wichtig und ihr Kampf gegen das Patriachat hochaktuell ist, weil es noch immer zu viele Frauen gibt, die als Besitz des Mannes, Objekt der Begierde oder Sündenbock herhalten müssen. 

Feminismus und Gewalt gegenüber Frauen (Eleni)

Da Woyzeck als überforderter Alleinverdiener und Familienernährer keinen Ausweg sieht, sich gegen die Männlichkeitsideale und die Gewalt, die der Tambourmajor bei Pucher wie ein Rockstar inszeniert, da Woyzeck keinen Ausweg aus der menschenverachtenden Ausbeutung des Doktors sieht, die ihn in den Wahnsinn treibt und da Woyzeck keinen Ausweg aus den moralischen Ansprüchen der Kirche sowie aus der Demütigung des Hauptmanns sieht, richtet Woyzeck seine ganze Wut gegen Marie, die er tötet – auch weil sie fremdgeht. So läuft das zumindest in Büchners Dramenfragment aus dem Jahr 1836 ab. Aber Pucher hat fast 200 Jahre später kein Interesse daran, die Titelfigur Woyzeck als ein zu bemitleidendes fremdbestimmtes Opfer der Gesellschaft darzustellen. 

Die Inszenierung in Wiesbaden demontiert toxische Männlichkeit und setzt ihr empowerte Weiblichkeit entgegen. Falsch verstandene männliche Stärke, Trinkfestigkeit, Unterdrückung, Gewalt und insbesondere Femizide, also die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, werden kritisch beleuchtet. Das Theaterstück ändert das Ende, es verzichtet auf Maries Tod und endet mit ihrer Abkehr von Woyzeck: „Fick dich, Franz!”, ein klares Zeichen gegen den Besitzanspruch Woyzecks. Maries Stimme wird zur Stimme aller Frauen, sie rappt gegen alltägliche Übergriffe, gegen sexuelle Gewalt und Femizide. Letztlich wird in der Inszenierung toxische Männlichkeit nicht als Krankheit entschuldigt, sondern als strukturelles Problem.

Euer Deutsch LKQuelle der Bilder: ©Maximilian Borchert und https://padlet.com/bfdtheaterpaedagogik/begleitmaterial-zu-woyzeck-suzu1srrq77qhf4d

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