Ein historischer Erfolg

Die Auschwitzprozesse, Gerichtsverfahren im 20 Jahrhundert in Polen, Deutschland und Österreich, versuchten, die NS-Verbrechen juristisch aufzuarbeiten. Unter den Anwälten, die diese Verfahren in Frankfurt begleitet haben, ist der damalige Rechtsanwalt Gerhard Wiese dabei gewesen. Am 07.06.2024 hat der Zeitzeuge seine Erfahrungen mit den Schülern/Schülerinnen des Lichtenberg Oberstufengymnasiums geteilt und von seinem Leben im dritten Reich berichtet.

Die Auschwitzprozesse

Auschwitz ist das größte Konzentrationslager aller nationalsozialistischer Konzentrationslager gewesen. Während der deutschen Besetzung Polens im zweiten Weltkrieg starben zwischen 1940-1945 mehr als eine Millionen Menschen, die den Forderungen der NS-Ideologie nicht nachkommen konnten. Vor allem Juden aus ganz Europa sind in den Vernichtungslagern gestorben. 

Die Schnittstelle zwischen Krieg und Gerechtigkeit 

Herr Wiese ist 1928 in Berlin geboren. Schon im Jahr 1933 ist er von seinem Elternhaus getrennt worden. In den folgenden Jahren musste er dem Militär beitreten. Zusammen mit Helmut Lange blieben sie bis 1943 in einer kleinen Ortschaft in Deutschland. Hier haben die Jugendlichen die Angriffe der USA und des Vereinigten Königreichs erlebt und gespürt. Im Dezember 1943 ist Wiese der Luftwaffenhelfergruppe beigetreten, die überwiegend vom 28er Jahrgang zusammengestellt wurde. Die physische Belastbarkeit und die Körpergröße haben die Aufgaben der Gruppenmitglieder bestimmt. Da der Fünfzehnjährige ein kleiner Junge gewesen ist, hat er sich, im Erdbunker sitzend, um das Nachladen der Flak kümmern müssen und die Routen der Feinde auf einer Karte markiert. Ab Januar 1945 schlug die Gruppe den Weg bis zum Tempelhofer Feld an. Den Jüngeren sei nun gesagt worden: ,,Ihr seid jetzt Soldaten‘‘. Für diesen Dienst wurden sie mit Geld und Zigarren entschädigt. Der junge Herr Wiese war in Berlin stationiert. Nach kurzem Aufenthalt ging seiner Gruppe die Munition aus und aus diesem Grund marschierten sie lange durch die S-Bahn-Tunnel und hielten die Stellung am Bahnhof, ohne eine Möglichkeit auf bewaffneten Selbstschutz, außer mit der Panzerfaust. Mit Bismarck und einem Kriegsminister hielt die Truppe erneut Stellung an der Siegessäule in Berlin. Bei ihrem Marsch nach Spandau stießen sie auf eine feindliche russische Einheit. 11 Gruppenmitglieder wurden, auf Grund ihres Angriffsversuchs auf die feindliche Einheit, gefangen genommen und an der Spree in einer Kaserne untergebracht. Während der Gefangenschaft musste die Gruppe Maschinen reparieren und demontieren. Die Verpflegung und das Essen lies zu wünschen übrig, doch die deutsche Gruppe wurde nicht physisch verletzt und die Gefangenschaft verlief ordentlich. Ende August wurden vier junge Männer, darunter Gerhard Wiese, entlassen in die Freiheit und nach Berlin geschickt. Nun kehrt Wiese in seine zerstörte Heimat zurück. Bei seiner Tante hat er seine Mutter nach jahrelanger Trennung auffinden können. Dieses erwärmende Wiedersehen haben sich beide erkämpfen müssen, und Wiese zahlte die Torturen der vergangenen Jahre mit gesundheitlichen Schäden (Tuberkulose) und dem Verlust seiner Jugend, während sein Vater in russischer Gefangenschaft verblieb. 1947 absolviert er das Abitur mit dem Ziel, Apotheker zu werden, und im Jahr darauf hält er sich vier Monate im Sanatorium auf, um in der Heilstätte seine Lunge regenerieren zu lassen. Die juristische Tradition seiner Familie holt ihn jedoch ein, und somit begann er Jura in Berlin zu studieren. In dieser Zeit lebt er bei seinem Onkel, der Anwalt war Nach der Versetzung nach Frankfurt studierte er dann im Westen von Deutschland mit 20 anderen Kommilitonen (Genossen) und erhielt vier Wochen nach seiner Hochzeit 1960 eine neue Stelle in Fulda. Durch engagierte Arbeit und Leistungen steigt Wiese zum Staatsanwalt in Frankfurt auf und wurde von Bauer in die Auschwitz-Ermittlergruppe berufen. Wiese erhielt die Aufgabe, die Anklageschriften, im Umfang von 700 Seiten, gegen die angeklagten Offiziere der Sturmstaffel von Hitler (SS) zu verfassen, die mit Druckmaschinen vervielfacht wurden. Somit konnten die Prozesse beginnen.

Der Weg nach Auschwitz 

Im Rahmen des Prozesses (um den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussagen zu überprüfen) mussten die Anwälte und Journalisten des Prozesses unter großem Zeitdruck nach Auschwitz gelangen. Die Reise zum Gerichtssaal erwies sich für die ca. 50 Personen als Herausforderung. Am 10.12.1964 ist der Flug vom Frankfurter Flughafen nach Wien gestrichen worden, da das Wetter einen Flug nicht ermöglichte. Um rechtzeitig in Wien einzutreffen, ist die Gruppe mit Bussen nach Stuttgart gefahren und traf um 23:00 Uhr in Wien ein. Außerdem gestaltete sich der Weg von Wien nach Warschau ebenfalls als kompliziert. Sie mussten zehntausend Deutsche Mark für einen Flug nach Warschau mit einer Sondermaschine zahlen. Trotz der äußeren Umstände kam die Gruppe am Montag in Auschwitz an.

Der Tag, an dem Geschichte geschrieben wurde

20.12.1963, ein Datum, das den Start des Auschwitzprozesses eingeläutet hat. Im Römer hat es begonnen. Eine Versammlung von 20 Leuten (ein Aufgebot von 20 Anwälten und Staatsanwälten) und den Angeklagten umfasste das Gerichtsverfahren gegen die Nationalsozialisten. Die Zeugen, überlebende KZ-Häftlinge, die gegen die Nazis ausgesagt haben, stammen aus dem Ausland (europaweit). Schon während der Aussagen versuchten die Angeklagten, die brutalen Gewaltakte in den Konzentrationslagern zu verleugnen. Im April wurde die Anklageprozedur im fertiggestellten Frankfurter Gallus-Bürgerhaus fortgeführt und die Dolmetscherinnen beruhigten die Zeugen, da das Zurückrufen der schmerzhaften Erinnerungen die ehemaligen Häftlinge (Zeugen) belastete. Aufklärung und Verständnis erhielten die Anwesenden im Schwurgericht über die Frage, wie die Transportation und die Selektion der Häftlinge ausgesehen haben. Die Atmosphäre in Auschwitz wurde durch die Schreie der geschlagenen Häftlinge aus dem Häftlingsblock bestimmt. Diese Verbrechen wurden durch den Gesang und den Schrei der Wächter verdrängt und man versuchte, sie so geheim zu halten.

Tragischer Wiedersehen

Die Zeugenaussage, die Herrn Wiese besonders im Gedächtnis geblieben ist, ist das Schicksal des jüdischen Arztes Dr. Berner. Wie alle Juden wurden Dr. Berner und seine Familie nach Auschwitz transportiert. Die SS-Offiziere vor Ort haben über Leben und Tod der Menschen entschieden. Bei der Ankunft der Gefangenen wurden die Männer in eine linke Reihe eingeteilt und Frauen und Kinder in eine rechte Reihe. Bei dieser Selektion erkennt Dr. Berner das Gesicht des SS-Offiziers, der die Einteilung leitet. Es ist ein ehemaliger Verkäufer gewesen, der Dr. Berner Medizin verkaufen wollte. Diese Bekanntschaft hat seine Familie nicht retten können. Das Wiedersehen der beiden wurde zu einem Schicksalsschlag. Seine Frau wurde zusammen mit seinen Kindern weggeschickt. Das Tragische an dieser Trennung ist die Zukunft der Kinder, da DR. Berner Zwillinge hat. Das biologische Phänomen von zwei nahezu identischen Menschen wurde von den SS-Offizieren untersucht und an den Zwillingen wurden Experimente durchgeführt. Nach dieser Aussage ist der Gerichtssaal von einer bedrückenden Stille heimgesucht worden.  

Ich habe nichts gesehen

Im Januar 1964 fand die nächste Verhandlung statt, begleitet von weiteren Zeugen im Gericht. Trotz des Widerstands der SS-Offiziere haben die Anwälte ihre Hoffnung nicht verloren, jedem Teilnehmer des Massenmords eine lebenslange Haft zuzuteilen. Die Offiziere, wie beispielsweise Herr Mulke, leugneten die Geschehnisse verübt oder gesehen zu haben. Aus seinem Büro heraus hatte er eine Aussicht auf Auschwitz. Obwohl die Untersuchungen bewiesen, dass er die Morde sehen konnte, leugnete er diese Beschuldigung mit der Erklärung, dass er nichts gesehen hätte. Diese Anschuldigung stritt er genauso ab wie seinen Diebstahl der goldenen Zähne der gefangenen Juden.

Das letzte Gefecht 

Die Anwälte haben sich einem erbitternden Kampf um Gerechtigkeit gestellt, um die Gräueltaten juristisch zu verhandeln und zu bestrafen. Hinzu kommt, dass Frietz Bauer für Aufklärung gesorgt hat und Beweise für die Gaskammern gefunden hat. Die Beschuldigten leugneten alles und haben die Prozesse somit für die Anwälte erschwert. Schlussfolgernd sind die Auschwitzprozesse in Frankfurt erfolgreich gewesen. Nach ca. 20 Monaten wurden die meisten Angeklagten zu Haftstrafen verurteilt. Unter ihnen sechs, die eine lebenslange Haft bekommen haben. Zwar reichten die Beweise nicht aus, um jeden Verbrecher lebenslang hinter Gitter zu bringen, doch dieser Tag gilt als historischer Erfolg für Deutschland sowie weltweit.

Tag null Das NS-Regime hat Deutschland und die Welt erschüttert und kostete Millionen von Menschen das Leben. Gerhard Wiese spricht sich über die Nachkriegszeit demzufolge wie folgt aus:,,Ein ganzer neuer Anfang bei 0‘‘.

Verfasst von Ermin Erovic, (19 Jahre, Q3, Englisch und Geschichts-LK)

Von links: Frau Stichauer, Herr Träger, Frau Reichelt, Herr Wiese

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